Sieben Jahre nachdem ich dem Europäischen Parlament kurz nach meiner Wahl zum Präsidenten der Italienischen Republik meine Ehrerbietung ausgesprochen habe, stehe ich nun wieder in diesem Saal. Ich nehme die Gelegenheit wahr, die mir Ihr Präsident gegeben hat, diese Wertschätzung noch einmal auszudrücken, wobei ich mich auf Überlegungen stütze, die unseren jüngsten Erfahrungen entspringen.
In den letzten sieben Jahren musste das europäische Einigungswerk die härtesten Proben seiner Geschichte bestehen.
Oft wurde bereits angemerkt, dass das gemeinschaftliche Europa sich von Anfang an über Krisen weiterentwickelt hat, die nach und nach entstanden und schließlich überwunden wurden. Doch handelte es sich dabei vorwiegend um politische Krisen in den Beziehungen zwischen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft. Nie handelte es sich jedoch, wie seit 2008, um Strukturkrisen, um die Fähigkeit des wirtschaftlichen und sozialen Wachstums, die Funktionsfähigkeit der Institutionen und die Basis des Bürgerkonsens. Nie wurde jedoch die Fortführung des eingeschlagenen Weges so radikal infrage gestellt!
Dies ist jedoch der Zusammenhang, in dem wir uns auf die Wahlen zur Erneuerung des Europäischen Parlaments zubewegen. Daher glaube ich, dass wir die Situation, die sich - wenn auch in unterschiedlichem Maβe und unterschiedlichen Formen - in den Mitgliedsländern entwickelt hat, als einen Moment der Wahrheit betrachten müssen; eine Wahrheit, die wir angehen müssen, wie auch all ihre Auswirkungen.
Es ist mehr als offensichtlich, dass die Hauptquelle der Enttäuschung, des Misstrauens und der Ablehnung des europäischen Projekts und allem voran der Arbeit der EU-Institutionen, in der Verschlechterung der Lebensbedingungen und des sozialen Status liegt, die breite Schichten der Bevölkerung in den meisten Mitgliedsländern der Union und der Eurozone betrifft. Emblematisch und zusammenfassend für die negativen und traumatischen Auswirkungen der Krise, ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit und die besonders dramatische und rapide Zunahme der Jugendarbeitslosigkeit.
Somit erscheint es nur natürlich, dass in der öffentlichen Debatte und in der politischen Auseinandersetzung das Vorantreiben eines effektiven Wandels bei Wachstum und Beschäftigung als vorrangig, unerlässlich und wünschenswert betrachtet wird. Es besteht die Meinung, dass eine Sparpolitik um jeden Preis nicht mehr funktioniert. Tatsächlich war diese die gängigste Antwort auf die Schuldenkrise im Euroraum und zog drastische Maßnahmen zur Eindämmung des Defizit-BIP-Verhältnisses und zum Ausgleich der Staatsfinanzen innerhalb kürzester Fristen der einzelnen Euro-Länder nach sich.
Diese Krise, die die finanzielle Nachhaltigkeit der Euro-Länder deutlich in Frage stellt zeigt, dass nun kein Weg mehr daran vorbeiführt, die Haushaltsdisziplin festzulegen und verbindlich zu machen, die seit der Einführung der Einheitswährung grobe Mängel aufweist. Sie, als Parlamentarier der Union, haben daher richtigerweise dazu beigetragen, effiziente Maßnahmenpakete zu schnüren, um so einen stringenten Rahmen für die Überwachung und Koordinierung der Haushaltsentscheidungen der Euro-Mitgliedsstaaten zu schaffen.
Besonders Italien hat in diesen Jahren erhebliche Anstrengungen und Opfer auf sich genommen, da es Zielscheibe für starken Druck auf den Finanzmärkten ausgesetzt war, und dies wegen der hohen Zinsen auf die jahrzehntelang angehäuften Staatsschulden. Selbst die deutliche Verbesserung dieser Situation im Laufe des Jahres 2013 kann uns nicht von der Verpflichtung zu einer fortschreitenden und deutlichen Schuldenreduzierung abbringen. Diese schwere Last darf jedoch keinesfalls von der nationalen Führungsschicht auf die Schultern der jungen Generationen abgeladen werden!
Die strengen Stabilisierungsmaßnahmen der Union, die in den Maastrichter Kriterien verankert sind, hatten unbestreitbar schwere Auswirkungen auf die Rezession und bewirkten den Rückgang des BIP und der Binnennachfrage, besonders in den Ländern, die die größten Opfer bringen mussten. Dies geschah trotz der mutigen Entscheidungen der EZB zur Eindämmung der Spekulationen auf dem Staatsanleihenmarkt und zur Zuführung neuer Liquidität für die geplagten Volkswirtschaften der Eurozone.
Der Wandel, den sich viele heute wünschen, darf daher sicherlich nicht zu demagogischer Unverantwortlichkeit oder zu noch mehr Defizit und Verschuldung führen. Er muss jedoch das Bewusstsein widerspiegeln, dass sich ein Teufelskreis aus restriktiven Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Finanzen und Rückfall der europäischen Volkswirtschaften gebildet hat. Letztere stehen heute am Scheideweg zwischen den ersten Zeichen für einen Wiederaufschwung einerseits und den Risiken, wenn nicht der Deflation, zumindest deutlicher Stagnation andererseits.
Diesen Teufelskreis zu durchbrechen - ein bedeutender Gelehrter, Claus Offe, benutzt in diesem Zusammenhang das Bild eines „Europa in der Falle" - ist von grundlegender Bedeutung, besonders wenn man die Situation einer ganzen Generation betrachtet, die heute immer mehr ins Abseits driftet. Selbst ein Wachstumsanstieg scheint dieser Generation nur wenige und schlechte Beschäftigungsmöglichkeiten zu bieten, wenn er zu schwach und nicht auf spezifische Ziele für junge Arbeitslose ausgerichtet ist.
In diesem Zusammenhang gilt es auch, den radikalen und ständigen technologischen Veränderungen Rechnung zu tragen, sowie dem harten Wettbewerb mit großen außereuropäischen Wirtschaftszonen. Daher gilt es, Reformen in den Bildungs - und Ausbildungssystemen und auf dem Arbeitsmarktes anzukurbeln, wo dies noch nicht erfolgt ist. Ausserdem gilt es, in Wissen und Forschung zu investieren und die jungen Arbeitskräfte auf neue Möglichkeiten und Beschäftigungsformen vorzubereiten.
Ein starkes und qualifiziertes Wachstum erfordert zweifelsohne Strukturreformen, gleichzeitig aber auch die Förderung nicht nur privater, sondern auch gezielter öffentlicher Investitionen, im Dienste europäischer und nationaler Projekte. Zu diesem Zweck gilt es - über die strenge Einhaltung der Kriterien hinaus - ein größeres Augenmerk auf die tatsächlichen Bedingungen der Nachhaltigkeit der Staatsschulden in den einzelnen Ländern zu legen und in diesem Zusammenhang die nötige Offenheit für die Wege und Fristen eines weiteren finanziellen Ausgleichs zu zeigen. Mit der am 12. Dezember letzten Jahres verabschiedeten umfangreichen Entschließung, die sich an den Kriterien der erneuerten Solidarität in der Union und besonders der Eurozone inspiriert, hat das europäische Parlament bereits sehr wertvolle Weisungen gegeben.
Von der Bankenunion, die schon im Juni 2012 vom europäischen Rat angekurbelt wurde, bis zu einer angemessenen Haushaltsfähigkeit der Union, auf der Grundlage von spezifischen Eigenressourcen, starken Regeln zur Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitik, die eine steigende Kohäsion zwischen den Mitgliedsstaaten ermöglichen können: All dies und noch vielmehr ist in Ihrer Entschließung enthalten, einer Entschließung zur Wiederaufnahme der Strategie der „differenzierten Integration", unter besonderem Bezug auf die verstärkte Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Auch fehlt in Ihrer Entschließung weder der Bezug auf die noch ungenutzten Möglichkeiten in den geltenden Verträgen, noch der auf die Notwendigkeit, die Verträge in Zukunft abzuändern.
So zeigt sich das Bild eines tiefen Wandels im Wesen und im Wirken der Europäischen Union. Der Bürger und Wähler steht nicht vor der irreführenden Wahl zwischen einer müden und rein rhetorischen Verteidigung eines Europas, das bei der Integration große Mängel und Verzerrungen gezeigt hat und der destruktiven Auflehnung gegen Euro und Union. Destruktiv, im Namen eines imaginären „anderen Europas", das auf den Ruinen des Europas, das wir kennengelernt haben, aufgebaut werden soll. Nein, darum geht es nicht bei dieser Wahl!
Der dramatischen Finanz- Wirtschafts und - Gesellschaftskrise sind die europäischen Institutionen sehr schwerfällig begegnet. Zuviel Zaudern, zu viele Meinungsverschiedenheiten und Langsamkeit, doch trotzdem haben sie sich sicherlich bemüht, die früheren Verhaltensweisen zu korrigieren.
Der Vorsitzende der EZB, Draghi wehrte sich bei einer Konferenz letzten November in Berlin gegen den Begriff eines „verlorenes Jahrzehnts". „Die Länder des Euroraums waren gezwungen, das zweite Jahrzehnt des Euros zu nutzen, um die Fehler des ersten wieder wett zu machen". In diesen Worten liegt keine Spur Rhetorik, sondern nur klares selbstkritisches Bewusstsein.
Der Euro war eine Innovation von historischem Wert, doch blieb er viele Jahre lang ein im Wesentlichen unvollendetes Rumpfprojekt. Dies kann in Bereichen, die nach der Einführung des Euro nicht weiter den nationalen Zuständigkeiten unterliegen hätten dürfen, nur durch anachronistische Blockade und nationale Abschottungen erklärt werden.
Die schwere Krise hat viele Widerstände überrollt und drängt stark in Richtung einer stärkeren Integration. Was die Methode und den rechtlichen Rahmen angeht, so überwogen deutlich intergovernative Entscheidungen und internationale Abkommen außerhalb des gemeinschaftlichen Rahmens. Deshalb muss gemäß den Forderungen des Parlaments und den Maßgaben des „fiscal compact" „die governance einer wirklichen Wirtschafts- und Währungsunion innerhalb des institutionellen Rahmens der Union angesiedelt werden". Von dort nämlich geht die entschiedene Stärkung der demokratischen Legitimierung des Entscheidungsprozesses innerhalb der Union aus: Eine solche Frage wurde als ungelöst in der öffentlichen Meinung, auf politischer und technischer Ebene, gesehen, und trug dazu bei, dass bei den Bürgern sich Entfremdung- und Misstrauens-Erscheinungen gegenüber den europäischen Institutionen verbreiteten.
Ich möchte sagen, dass in der Konsenskrise, unter der die Europäische Union und der Integrationsprozess leiden, all das wirtschaftliche und soziale Unwohlsein zum Ausdruck kommt, das zu vermeiden die Union nicht in der Lage gewesen ist. Schwerwiegend sind hier auch verschiedene, ernsthafte politische Mängel bei der Information und der Einbeziehung der Bürger in die Festlegung der Ausrichtungen und Entscheidungen der Union. Die Veränderungen, die der Wählerschaft angeboten werden, müssen also über Wirtschafts- und Sozialpolitik hinausgehen. Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit den Kräften, welche die europäische Integration in ihrer Kontinuität und ihrer ebenso notwendigen wie möglichen Erneuerung verneinen oder sie bekämpfen. Für eine neue Phase nachhaltigen wirtschaftlichen Wachstums muss Vertrauen neu geweckt werden; aber auch solch ein Vertrauen garantiert nicht die politische Legitimierung des Integrationsprozesses, wenn es nicht mit einer institutionellen und politischen Weiterentwicklung der Union einhergeht.
Diejenige von uns, die an ein geeintes Europa glauben, können - so glaube ich - den Wahlen gelassen und voller Vertrauen entgegensehen; besonders, wenn unserem Entwurf und unserer Erfahrung ihr ursprüngliches Angesicht und ihren gesamten Reichtum wiedergegeben wird, nachdem wir in diesen Jahren eine verengte, allzu wirtschaftslastige Version mit stark technischen Zügen sehen mussten. Die Vorstellung dessen, was in wenig mehr als einem halben Jahrhundert geschaffen wurde, ist verblasst und muss entschieden aufgefrischt werden: Es geht nicht nur um einen gemeinsamen Markt und um wirtschaftliche Zusammenarbeit, sondern um eine Wertegemeinschaft und eine komplexe Rechtsgemeinschaft im Zeichen der Freiheit und Demokratie. Die Horizonte des europäischen Projekts haben sich ausgeweitet und es wurde bereits eine gemeinsame europäische Sichtweise und Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen, der Verteidigung und der Sicherheitspolitik umrissen.
Der Boden dieses unvergleichlichen Werks war das Empfinden unserer extrem reichen gemeinsamen Kultur : ein Empfinden, das wir vor wenigen Tagen beim Abschied Europas von einem großen Verfechter europäischer Werte, Claudio Abbado, hatten.
Aus all dem ziehe ich den Schluss, dass das europäische Gebäude inzwischen so tiefe Fundamente besitzt, dass ein so dichtes Netz von Verbindungen, ein so enges Ineinandergreifen unserer Gesellschaften, unserer Institutionen, unserer sozialen Kräfte, der Bürger und jungen Menschen unserer Länder entstanden ist, dass ein Umkehren nicht mehr möglich ist.
In den Behauptungen derer, die das, was wir in den letzten Jahrzehnten geschaffen haben - vom Europa der 6 zum Europa der 28 - als schlecht abtun, steckt also viel leere Propaganda und wenig Glaubhaftes. Wie kann man da also vom „Ende des europäischen Traums" sprechen und dabei womöglich auch noch meinen, dieses Ende könne man durch die Abschaffung des Euro verhindern und die Union so retten? Die Machbarkeit und die traumatischen Konsequenzen eines solchen Schrittes werden von Einigen mit entwaffnender Unbedarftheit betrachtet. Abgesehen davon sehe ich auch nicht, welches der Ort, und welches die Garanten für ein so unwahrscheinliches Unterfangen sein sollten.
Tatsächlich haben die europäischen Institutionen und die Weitsichtigeren in der politischen Führungsschicht der verschiedenen Länder, trotz der zahlreichen Untergangsprophezeiungen für den Euro, begriffen, dass es wesentlich ist, den Euro zu verteidigen, um das gesamte europäische Projekt sicher zu stellen. Allerdings musste man sich dazu auch den begangenen Fehlern stellen, die bei genauem Hinsehen auf die Schwächung des gemeinsamen politischen Willens zurückzuführen sind, der diesen Sprung nach vorne möglich gemacht hat und der alle weiteren Entwicklungen der europäischen Einigung gleichzeitig mit der deutschen Wiedervereinigung und der Erweiterung der Union hätte leiten müssen.
Wenn das, was wir heute erleben, und das was bei den kommenden Wahlen zu Tage treten wird, wie bereits gesagt, ein Moment der Wahrheit für die Einheit und die Zukunft Europas ist, dann ist ein neuer, stärkerer, gemeinsamer politischer Wille eine absolute Bedingung für den Erfolg; ein Wille, dem es gelingt, weiten Teilen der Bevölkerung die geschichtlichen und die neuen Gründe für das europäische Projekt rational und emotional zu vermitteln. Die Botschaft muss also leidenschaftlich und zutiefst empfunden sein, wie die Botschaft der großen Bilder der vergangenen Jahrzehnte: das Bild von François Mitterrand und Helmut Kohl zum Beispiel, die Hand in Hand der Soldaten gedenken, die in der schrecklichen Schlacht von Verdun während des Ersten Weltkriegs gefallen sind.
Es wurde geschrieben, diese „beiden großen Europäer" seien „erfüllt gewesen vom tragischen Gefühl der Geschichte": daher ihr Europäismus, bis hin zur Übereinkunft zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Einheitswährung. Erfüllt von diesem Gefühl waren aber auch alle Gründerväter des gemeinschaftlichen Europas, die Unterzeichner der Schuman-Erklärung vom Mai 1950 und die Befürworter der Idee einer europäischen Föderation.
Nie habe ich die Befürchtungen geteilt, dass beim Übergang der politischen und Regierungsverantwortung auf die nachfolgenden Generationen die Inspiration, das Bewusstsein, der gemeinsame europäische politische Wille verloren gehen könnte, der in der Einigung des gesamten Kontinents in Freiheit und Frieden gipfelte. Jetzt muss bewiesen werden, dass diese Dinge nicht verschwunden sind und dass sie in einem anderen, neuen Kontext neue Kraft gewinnen können.
Natürlich sind die Motivationen für das europäische Projekt heute andere, Motivationen eben, die die Europäer dieses Jahrhunderts, dieser heutigen Welt ansprechen.
Gestern war die Triebfeder der Wunsch, wirtschaftliche und politische Nationalismen zu beenden, die zu fatalen Konflikten geführt hatten; eine starke Triebfeder, um Zustimmung für ein geeintes Europa zu finden. Nun, heute sollte eine ebenso starke Triebfeder der Wunsch sein, den Niedergang unseres Kontinents abzuwenden, den Niedergang dessen, was Europa in der Geschichte dargestellt hat. Europa ist demografisch, wirtschaftlich und in seiner Rolle für das internationale Gleichgewicht kleiner geworden als andere Kontinente. Wenn es aber seine Kräfte zu einen weiß, kann es weiter seinen besonderen Beitrag zur geschichtlichen Entwicklung und zur Zukunft der Zivilisation der Menschheit leisten.
Die neue, begeisternde Aufgabe des geeinten Europas ist es, im Strom einer Globalisierung, die uns als europäische Nationen überwältigen könnte, unsere geschichtliche Identität, unser unverwechselbares kulturelles Erbe, das Beispiel und Modell einer übernationalen Integration, einer Rechtsgemeinschaft und sozialen Marktwirtschaft fortleben zu lassen.
Damit diese Aufgabe von den Völkern unserer Union mitgetragen wird und erfolgreich fortgesetzt werden kann, ist ein stärkerer politischer Zusammenhalt in Europa von Nöten, eine überzeugtere und entschlossenere europäische politische Leadership. Vor dreißig Jahren, vor genau dreißig Jahren und hier in Strassburg - lassen Sie mich daran erinnern - gelang es Altiero Spinelli mit dem Vertragsentwurf, der seinen Namen trägt, das europäische Parlament dazu zu bringen, diese Fähigkeit zur Leadership hervorzubringen. Die Gelegenheit wurde damals nicht genutzt, aber ihr verfassungsgebender Geist lebt und zählt weiter; auch weil seine Idee eines föderativen Europas nichts mit dem verschiedentlich an die Wand gemalten Schreckgespenst eines zentralisierten Superstaates zu tun hatte. Der seit 1984 zurückgelegte Weg ist lang. Aber noch gibt es harte politische Schlachten zu schlagen, wenn auch vielleicht nicht gegen die Rückkehr aggressiver Nationalismen, so doch sicher gegen zähen nationalen Egoismus und nicht minder zähe Kleinkrämerei, gegen allzu enge Vorstellungen, schäbige Berechnung und zeitfremden Konservativismus, die man täglich in den nationalen Führungsschichten beobachten muss.
Helmut Schmidt hat kürzlich bemerkt, es fehle zu vielen europäischen Führungspersönlichkeiten „die Weitsicht", das nötige Bewusstsein eines drohenden Niedergangs Europas. Die Gründungsväter und Erbauer des gemeinschaftlichen Europas waren nicht nur „erfüllt vom tragischen Gefühl der Geschichte", sie hatten auch eine kühne und realistische Sicht der Zukunft. Solch eine Sicht kann heute und in den kommenden Jahren nur eine Politik haben, die endlich europäisch wird. Auf einem so eng verwobenen Kontinent, wie dem unseren, ist die Politik, mit allen damit einhergehenden fatalen Grenzen und Auswüchsen, national geblieben.
Europäische Politik, öffentlicher europäischer Raum, europäische politische Parteien: Was ist denn diese Europäische Union, von der immer die Rede ist, wenn man nicht auf europäischer Ebene den politischen, demokratischen Wettbewerb zwischen den verschiedenen Ideenströmungen und organisierten politischen Kräften ins Leben ruft? Dieser große Sprung nach vorne muss vollzogen werden, und das Europäische Parlament und seine Abgeordneten haben in enger Verbindung mit den nationalen Parlamentariern und Parlamenten viel dazu zu sagen, um möglichst weite Bevölkerungsschichten zu erreichen, die sie zu einer besser informierten und aktiveren politischen Beteiligung am Aufbau eines stärker geeinten, demokratischeren, effizienteren Europas bringen können.
In diesem Parlament ist der ursprüngliche, lebendige Kern der europäischen politischen Parteien bereits tätig. Hier ist genügend Sensibilität und Kompetenz versammelt, um eine politische Botschaft für die Führung Europas zu formulieren; eine Botschaft, die über die verschlüsselten Sprechweisen und komplexen Fachausdrücke der Institutionen der Union hinausgeht und bei den Bürgern ankommt. Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordneten, in Ihren Händen - hauptsächlich in Ihren Händen - liegt die Aufgabe, die politische Dimension der europäischen Einigung in der kommenden Entwicklungsphase aufkeimen und wachsen zu lassen.