Wien 26/06/2007

Tischrede des Präsidenten der Italienischen Republik Giorgio Napolitano




Tischrede des Präsidenten der Italienischen Republik
Giorgio Napolitano


(Wien, 26. Juni 2007)


Herr Bundespräsident, lieber Freund !

Ich danke Ihnen aufrichtig für die vorzügliche Gastfreundschaft, die Sie mir und meiner Frau sowie der italienischen Delegation angedeihen lassen. Ich bin glücklich, dass es mir möglich war, Ihre Einladung anzunehmen und Ihnen diesen Besuch abzustatten. Die herzlichen Worte, die Sie nun an mich gerichtet haben, und die Sie durch mich auch an Italien richten, sind Bestätigung für die Aufrichtigkeit der persönlichen Beziehungen der Achtung und Sympathie, die uns verbinden, und auch für die Stärke der gemeinsamen geschichtlichen Bande und den Willen zur engen Zusammenarbeit, die unsere beiden Länder verbinden.
Ich hatte das Vergnügen, Sie, lieber Freund, viele Jahre bevor wir beide das Amt des Staatspräsidenten übernommen haben, kennenzulernen: heute tragen wir gemeinsam die Verantwortung, die Gefühle und Erwartungen der Nationen und der Bevölkerungen Österreichs und Italiens zu vertreten, die sich in den Idealen des Friedens und der Demokratie eines vereinten Europa wiederfinden.
Hier, in dieser großartigen europäischen Hauptstadt Wien, so reich an historischer Tradition und an kulturellem und künstlerischen Erbe, die ganz Europa angehören, fühlen wir uns veranlasst, uns die vielen Fäden, die unseren Ländern im Laufe der Zeit ein Gefühl der Nähe vermittelt haben, neuerlich in Erinnerung zu rufen und zu beleuchten. So können wir jene Zusammenarbeit zwischen der italienischen und der österreichischen Aufklärung nicht vergessen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jh. zu einer Art kultureller Symbiose zwischen unseren beiden Nationen führte. Auch dürfen uns die Züge der Modernität und des zivilen Fortschrittes der Kaiserzeit nicht entgehen, die in der Literatur Ihres Landes auf so meisterhafte, und doch von kritischem Geist erfüllte Weise Darstellung gefunden haben.
In ebendiesem Kontext der Erfahrung der Kaiserzeit konnte sich politisch der bedeutendste Staatsmann Italiens bilden, einem Land, das nach dem Fall des Faschismus wieder zu demokratischem Leben erwacht war: Alcide De Gasperi. Er studierte an der Alma Mater Rudolphina und behauptete sich später als Abgeordneter des Parlaments in Wien. Er war ein zutieftst überzeugter Italiener, der leidenschaftlich die Rechte der italienischen Bevölkerung im Trentino verteidigte. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, bereits damals die Idee eines von gegenseitigem Respekt geprägten und fruchtbaren multiethnischen Zusammenlebens zu verfolgen, die ihn in den späteren Jahrzehnten auch während seiner Regierungstätigkeit in Italien leiten sollte.
In den Beziehungen zwischen Italien und Österreich gibt es keine Spur der vergangenen Konflikte mehr. Seit mehr als 12 Jahren haben wir in der Europäischen Union zusammengefunden. Bewegt erinnere ich mich an jenen Tag im Frühjahr 1997, als ich in meiner Eigenschaft als Innenminister der Italienischen Republik gemeinsam mit meinem damaligen österreichischen Amtskollegen die Aufgabe hatte, die Barriere am Grenzübergang Brenner zu entfernen. Diese Grenze war zweimal im 20. Jahrhundert von kriegsführenden Armeen überquert worden; dank Schengen war sie nun zu einem Übergang im freien Personenverkehr zwischen den Bürgern befreundeter Länder geworden.
Und seit nunmehr 15 Jahren ist der lange Entwicklungs- und Durchführungsprozess des Gruber-De Gasperi-Abkommens aus dem Jahr 1946 abgeschlossen, eines Abkommens, das eine dauerhafte Regelung der Autonomie für Südtirol unter vollständiger Wahrung der Rechte der deutsch- und italienischsprachigen Bevölkerungsteile in einem Kontext gegenseitiger kultureller Befruchtung und konstruktiver ziviler und sozialer Zusammenarbeit zum Ziel hatte.
Herr Bundespräsident, lieber Freund, wir können zufrieden sein mit der immer intensiveren Entwicklung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zwischen Italien und Österreich und mit dem Austausch zwischen unseren beiden Ländern auf allen anderen Gebieten. Ich spreche vom Bereich der Kultur - hier sind wir vor allem durch intensive Beziehungen in Bezug auf unsere musikalischen Traditionen und Aktivitäten verbunden - und ich spreche von den Bereichen Wissenschaft, Finanz und Fremdenverkehr.
Wir arbeiten auch am bedeutenden Projekt des Brennerbasistunnels zusammen, einer Achse in einem länderverbindenden Verkehrsnetz, die in Zukunft von großer Bedeutung sein wird.
Aber von vorrangiger Bedeutung ist heute das Bewußtsein der Aufgabe, die wir gemeinsam für die Einheit Europas, für die Verstärkung der Fähigkeit Europas zur Weiterentwicklung und für Europas Rolle in der Welt zu bewältigen haben. Man denke nur an die besondere Verantwortung, die wir gemeinsam für die demokratische Stabilisierung am Balkan und für die Annäherung dieser Region an die Europäische Union tragen.
Wien, das bereits seit der 2004 erfolgten Erweitertung Europas als Kreuzungspunkt zwischen verschiedenen geschichtlichen Entwicklungen und verschiedenen Kulturen gilt, die alle in den Integrationsprozess eingeflossen sind, gibt wesentliche Beiträge auf mehrfacher Ebene : einschließlich jener des militärischen Engagements in den Krisenregionen. Österreich und Italien fühlen auf gleiche Weise und im gleichen Maße die Notwendigkeit, das historische Unterfangen der Einheit Europas kohärent weiterzuentwickeln. Vor wenigen Tagen fand ein wichtiges Treffen des Europäischen Rates statt, bei dem der Weg für die Überwindung einer institutionellen Sackgasse, in der die Union seit zwei Jahren feststeckte, freigemacht wurde. Der Preis dafür war jedoch eine Zerstückelung und eine Aushöhlung des Vertrages, der 2004 unterzeichnet wurde. Der Geist, und damit auch die Methode, der Gemeinschaft sind in Frage gestellt worden; es besteht nun wieder die Tendenz, den Integrationsprozess auf ein einfaches Netz zwischen den Regierungen zu reduzieren, innerhalb dessen das alte Spiel der Alleanzen wieder auflebt. Wir stehen im Wesentlichen vor dem Risiko, dass die Ziele und Verantwortungen unseres Europa ungerechtfertigt aufgegeben werden: um diese Gefahr abzuwenden, werden unsere Länder gemeinsam mit anderen in völliger Übereinstimmung kräftig ihre Stimme erheben müssen.
In diesem Geiste und mit diesem Wunsche hebe ich, sehr geehrter Herr Bundespräsident, mein Glas auf Ihr persönliches Wohl und das Ihrer verehrten Gemahlin, auf das Gedeihen des österreichischen Volkes, sowie auf die Freundschaft zwischen unseren beiden Ländern und die Zukunft Europas.