Berlin 27/11/2007

"Den alten Knoten der widersprüchlichen Visionen des europäischen Projektes lösen. Einen neuen gemeinsamen politischen Willen hervorkommen lassen" - Humboldt Universität


"Den alten Knoten der widersprüchlichen Visionen des europäischen Projektes lösen.
Einen neuen gemeinsamen politischen Willen hervorkommen lassen."


Humboldt-Universität
(Berlin 27. November 2007)

1. EIN BEKENNTNIS EUROPÄISCHEN GLAUBENS.

Es ist für mich ein Grund besonderer Genugtuung, das Wort an dieser historischen Universität ergreifen zu können, die in den jüngsten Jahren ein privilegierter Ort von Analysen und wichtigen Botschaften zum Aufbau und zur Zukunft Europas gewesen ist.
In der an mich gerichteten Einladung habe ich ein Zeichen der Anerkennung für die von Italien seit nunmehr 1950 ausgeübte Rolle im langen Integrationsprozess Europas gesehen, und mehr noch ein Zeichen der Aufmerksamkeit für den Beitrag, den Italien auch weiterhin in einer neuen Phase der Überlegung und des Einsatzes einbringen kann. Nun, ich möchte diese Aufmerksamkeit und Erwartung sofort aufgreifen: Italien blickt immer auf Europa als einen natürlichen Horizont der eigenen Entwicklung und der Präsenz des Landes in der Welt. Ich sage dies, da ich weiss, dass ich - in meiner aktuellen institutionellen Verantwortung - Gefühle und Orientierungen vertrete, die in der nationalen Gemeinschaft verwurzelt und verbreitet sind.
Ich füge aber dennoch hinzu, dass ich glaube, mich - an diesem Ort des Studiums und der freien Auseinandersetzung - mit Themen und weniger offiziellen und diplomatischen Anklängen an Sie wenden zu können, die streng und ganz offen persönlicher Art sind. Erlauben Sie mir also, dass ich mehr als ein Staatschef als überzeugter Verfechter der europäischen Frage zu Ihnen spreche.
Ich hoffe, dass dieses Bekenntnis europäischen Glaubens nicht verwundert und man dessen Sinn begreift. Ich fürchte, dass man seit einiger Zeit den Elan verloren hat, der den Beginn des europäischen Aufbaus gekennzeichnet und der nachfolgend erlaubt hatte, Schwierigkeiten und Krisenmomente zu überstehen. Dieser Elan darf nicht mit einer banalen, rhetorischen Erklärung verwechselt werden, er bestand aus einem tief greifenden Bewusstsein der Verantwortungen Europas, aus einer stolzen Einforderung seiner Rolle, aus dem offenen Eingeständnis seiner Fehler und einer langfristigen Vision der neu zu eröffnenden Perspektive, die es zu verfolgen galt.
Heute dagegen scheinen zu viele Politiker, sogar Staatsmänner der Mitgliedsstaaten der Union Angst zu haben, sich auf die Ideale der Schuman-Erklärung zu berufen, auf den Geist wenn schon nicht auf das Wort des Aufrufs zu einem europäischen Staatenbund, auf jene Vereinigten Staaten Europas, die von Denkern und erleuchteten Staatsmännern nach dem Zweiten Weltkrieg und auch schon in einer weiter zurück liegenden Vergangenheit herbei gesehnt worden waren.
Nun gut, es ist wichtig, diesen Geist des Ursprungs der europäischen Integration nicht auszulöschen; und noch wichtiger ist es, den gerechtfertigten Stolz für das Unterfangen zu zeigen, das daraus hervor gegangen ist, für das innovativste politische Projekt mit dem größten konkreten Erfolg, das in der Welt in der zweiten Hälfte des 20-sten Jahrhunderts erdacht und voran gebracht worden ist. Sehr viel müsste uns ja auch die Tatsache sagen, dass sich in anderen Kontinenten Ziele der regionalen Integration ankündigen, die sich am europäischen Modell inspirieren.

2. DER "GEIST DES URSPRUNGS" UND SEINE ANHALTENDE VITALITÄT.

Der Weg, den man hier bei uns in über 50 Jahren verfolgt hat, war weder einfach noch linear; er hat Momente des Stillstands und immer neue Entwicklungen erlebt; in einigen Momenten ist man schneller voran gekommen, in anderen weniger. Die Historiker haben zu Recht vom "europäischen Abenteuer" gesprochen, aber es war ein "Abenteuer", das mit Weisheit und Hartnäckigkeit gelebt worden ist. Grundlegend war dabei den roten Faden dessen zu erhalten, was als "gemeinschaftliche Invention" bezeichnet worden ist: die Entscheidung also, ein vereintes Europa über die Schaffung und Konsolidierung neuer Institutionen aufzubauen, denen man die bisher unbekannte Aufgabe anvertrauen musste, Machtbefugnisse der geteilten Hoheit zu verwalten und - mit der aktiven Teilnahme der Nationalstaaten - gemeinsame Entwicklungsprojekte der Wirtschaft und der Gesellschaft zunächst in sechs Ländern und dann, nach und nach, in den anderen zu verwirklichen, die sich dieser Entscheidung anschlossen.
Grundlage für die "gemeinschaftliche Invention" war natürlich die Überzeugung, ein Universum aus Werten und historischen Erfahrungen zu vertreten: nicht mehr und nicht weniger also, als die europäische Zivilisation in ihren höchsten Ausdrucksformen und Errungenschaften, bis zu jenem liberalen Rechtsstaat der repräsentativen Demokratie. Es bestand am Anfang kein Zweifel an der objektiven Gültigkeit der Bezugspunkte als denen einer gemeinsamen europäischen Kultur und Identität, noch an der Mission, auf die sich das Integrationsprojekt bezog: in einem potentiell immer weiteren Bereich das europäische Selbstbewusstsein auszudrücken.
Dies ist der Kern der grundlegenden Überzeugungen, die in jenen neuen gemeinsamen politischen Willen umzusetzen sind, der die wahre Bedingung und Garantie für eine tatsächliche Konsolidierung und ein wahres Voranschreiten der Union darstellt, die soeben aus einer schwierigen und nicht kurzen institutionellen Sackgasse hervor gekommen ist. Ein politischer Willen, der in der Lage ist, die Faktoren und Risiken einer tiefgreifenderen Krise des Integrationsprozesses zu überwinden.
Wenn ich mich in seiner beständigen Vitalität auf den Geist der Ursprünge dieses Prozesses beziehen wollte, so ist dies sicherlich nicht geschehen, weil ich mir dessen, was sich verändert hat und was sich ändern muss, nicht bewusst bin. Viele Ziele sind erreicht worden, andere Ziele sind hervor gekommen und müssen ins Visier genommen werden; die Motivierungen der vorhergehenden historischen Epochen müssen mit den Beweggründen der Einheit integriert werden, die vom neuen Weltkontext gegeben sind. Und es handelt sich um starke Beweggründe, die uns mit großem Nachdruck auffordern, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.
Der Akzent muss daher vorab auf die Höherbewertung der bereits erreichten Ziele gesetzt werden, die von den jungen Generationen eher als ein "Geschenk der Vorsehung" angenommen werden denn als Ergebnis eines Projekts und einer Methode, die auf dem gemeinsamen politischen Willen basieren, und die die Spitzenpolitiker und repräsentativen Institutionen einer immer wachsenden Zahl von europäischen Ländern verstanden haben auszudrücken. Gleichzeitig muss man entschieden die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen von heute richten, auf die Europa aufgefordert ist zu antworten. Sie rühren von den Veränderungen und den Spannungen in der Weltrealität her. Die Verantwortlichen der Mitgliedsstaaten kennen nicht nur den Namen und den Gegenstand dieser neuen Herausforderungen, sondern sie erkennen auch die Tragweite, die über die Eingriffs- und Antwortmöglichkeiten hinausgeht, über die die einzelnen Nationalstaaten verfügen. Aber - und das ist der Punkt - man weigert sich oder zögert, die notwendigen Konsequenzen aus dieser Anerkennung zu ziehen, weil es aufgrund alter und neuer Vorbehalte zu grundlegenden Aspekten des europäischen Projekts an gemeinsamem politischen Willen fehlt.

3. DAS ERGEBNIS DES EUROPÄISCHEN RATES IM JUNI.

Hierauf möchte ich bestehen gleich nach der Gegenüberstellung, die dann im Europarat im Juni dieses Jahres und nachfolgend in der Regierungskonferenz zu einer einstimmigen Übereinkunft geworden ist.
Ich teile, das muss klar sein, die allgemeine Überzeugung, dass man dank des wissenden und hartnäckigen Einsatzes des deutschen Vorsitzes zu einem Ergebnis gelangt ist, das von vitaler Bedeutung ist. Der institutionelle Stillstand konnte nicht ohne schwere Schäden und Risiken weiter gehen; bereits von zu vielen Seiten schlug man Alarm wegen eines fatal gelähmten Europa, das unfähig sei sich wieder zu erheben, und es gab auch einige, die hofften, dass es so sein möge.
Was uns angeht, hatten wir die Warnung von Jean Monnet bezüglich des schwierigen Weges zum europäischen Aufbau nicht vergessen: "nichts wäre gefährlicher als Schwierigkeiten und Niederlage zu verwechseln". Kein Verwechseln. Wir wussten, wie tief die Grundlagen des europäischen Aufbaus reichten und dass sein Überleben nicht auf dem Spiel stand. Wir vertrauten auf die Überwindung der Sackgasse in Folge der fehlenden Ratifizierung des Verfassungstraktats von Seiten einer wichtigen Gruppe von Mitgliedsstaaten, angefangen bei Frankreich; wir hofften, dass die Übereinkunft ohne große Opfer erreicht werden konnte.
Nun gut, es ist richtig zu sagen, dass die Substanz des Verfassungsvertrags von 2004 gerettet worden ist; laut der "pauschalen" Bewertung der Experten sind 90% der Innovationen, die in diesem Text enthalten sind, beibehalten worden.
Was eine ernsthafte Überlegung verdient, ist daher etwas anderes. Nicht so sehr die konkrete Konsequenz der Korrektureingriffe im Verfassungsvertrag, die man schlussendlich akzeptieren musste; sondern vielmehr der Komplex der Positionen, die in der Ablehnung der Ratifizierung und in den Forderungen nach einer Abänderung eben dieses Traktats zum Ausdruck gekommen sind.
Was hat die Löschung des Namens, der Symbole, der Worte und Verfügungen bedeutet, die einen "constitutional flavor" besaßen? Was hat die Erklärung bedeutet, mit der festgelegt worden ist, dass die im "Reform Treaty" verbliebenen Formulierungen bezüglich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik "weder die Kompetenzen der Mitgliedsstaaten noch ihrer Vertretungen in Drittländern und in den internationalen Organisationen berühren"? Welche Bedeutung hat der Aufschub um nicht wenige Jahre des Inkrafttretens der doppelten Mehrheit in den Abstimmungen des Rates? Oder die wiederholte Forderung, dass die nationalen Parlamente die Gesetzesvorschläge der Europäischen Kommission stoppen können?
Die Bedeutung all jenes Drucks und jener Vorbehalte, mit denen man sich auseinander setzen musste, um "die Substanz des Verfassungsvertrages zu retten" ist zweifelsohne nur eine: die Zuteilung neuer Aufgaben und neuer Machtbefugnis an die europäischen Institutionen zu bekämpfen oder zu bremsen. Es kommt so in der Union mit 27 Mitgliedern ein Knoten wieder auf, der schon mehrmals aufgetaucht und in der Vergangenheit nie gelöst worden ist, nämlich der des Zusammenlebens und der Überlagerung zwischen den verschiedenen Visionen des europäischen Projekts.
Es gibt etwas in den von den verschiedenen Mitgliedsstaaten ausgedrückten Haltungen, das an eine Rückkehr in die Vergangenheit denken lässt. Irgendwo wird dagegen der Verzicht auf den Verfassungsvertrag präsentiert als eine gesunde "Rückkehr zum Realismus" oder "zur Vernunft". Aber hat man sich vielleicht zwischen 2001 und 2004 im Bereich des "Irrealen" bewegt oder "gefaselt"? Nein, in der Erklärung von Laeken war die Entscheidung an einem Verfassungsvertrag zu arbeiten aus der Notwendigkeit entstanden, eine Antwort auf die drängenden Fragen zur Zukunft Europas zu geben.

4. DIE BEWEGGRÜNDE DES VERFASSUNGSVERTRAGS.

Man darf nicht vergessen, dass der gleichzeitig stattfindende Prozess der "großen Erweiterung" der Union zunächst nahe gelegt hatte, die Prinzipien, Werte und Ziele des europäischen Integrationsprojektes erneut zu bestätigen und zu formulieren, dem sich Länder, die aus verschiedenen ideologischen und internationalen Umfeldern sowie unterschiedlichen nationalen Systemen kamen, anschickten beizutreten. Die Verfassung wurde als einender Faktor gesehen und in gewisser Hinsicht als Moment der Neugründung des europäischen Integrationsprojektes, das endlich dem gesamten Kontinent offen stand.
An zweiter Stelle machte die Entscheidung die Mitgliedschaft in der Union so bedeutend zu erweitern die Definition neuer institutioneller Ordnungen und Entscheidungsmechanismen unumgänglich, wenn man eine Lähmung oder die Verwässerung des Integrationsprozesses vermeiden wollte.
So wurde der Entwurf des Verfassungsvertrages ausgearbeitet. Dies waren die Beweggründe und dies war der Ehrgeiz. Das Gebäude des europäischen Aufbaus musste in die Lage versetzt werden, das Gewicht der "großen Erweiterung" zu tragen und sich zur Krönung der schrittweisen Entwicklungen, die im Laufe von 50 Jahren aufeinander gefolgt waren, ein explizites, nunmehr verfassungsmäßiges Aussehen geben. Man musste eine Charakterisierung des vereinten Europa als Gemeinschaft des Rechts, der Werte und immer mehr als ursprüngliche politische Entität festlegen. Man muss sich einsetzen, um diese Perspektive offen zu halten, jenseits des juristisch vereinbarten Abkommens von Lissabon.
Dieses Abkommen hat es erlaubt, die "innovativen Werkzeuge " zu retten - wie sie kürzlich Präsident Giscard d'Estaing definiert hat - die vom Konvent in Brüssel ausgearbeitet worden sind (von einem stabilen Vorsitz des Rates bis hin zur neuen Figur der Außenministers der Union, wenn auch der Name geändert wurde). Dort hat man, fügt Giscard d'Estaing hinzu, die Werkzeuge in drei Fächer von Abänderungsanträgen gegenüber den alten Verträgen zerstreut, und hat den neuen, zu ratifizierenden Verfassungsvertrag komplizierter gemacht und nicht vereinfacht, hat ihn nicht mehr sondern weniger lesbar gemacht, aber der "Werkzeugkasten" ist der vorherige geblieben.
Zudem war die zweieinhalb Jahre lang mit Mühen verhandelte Verfassung nicht nur ein "Werkzeugkasten", als Bestätigung, dass die Institutionen nicht nur Mittel zum Zweck sind, sondern auch die Absichten, die Sphäre der Ziele umfassen. Eben dieser Beitrag zu den Zielen, zum Ehrgeiz, zum Aussehen der Integration ist umnebelt aus den nicht erfolgten Ratifizierungen des Verfassungstraktats und aus den Diskussionen, die ihnen vorausgegangen und gefolgt sind, hervorgegangen.
Man kann, weder aus schwerwiegenden noch aus geringeren Gründen der Unstimmigkeit zur Vergangenheit zurückkehren. Das gemeinschaftliche Europa konnte leben und sich entwickeln, weil es nach vorn geblickt hat und vermieden hat, sowohl sich in provisorischen Kompromissen zu verstricken, die lähmend werden könnten, als auch - wie es in einer anderen Phase des Lebens der Gemeinschaft 1984 Präsident François Mitterrand ausdrückte - sich von "obsédant contentieux", von "querelles dérisoires" aufhalten zu lassen.

5. DIE BEZIEHUNG ZWISCHEN UNION UND NATIONALSTAATEN.

Die Frage der Beziehung zwischen dem gemeinsamen europäischen Interesse und den nationalen Interessen, und allgemeiner der Beziehung zwischen der Union und den Nationalstaaten, ist - wie wir alle sehr wohl wissen - so alt wie das gemeinschaftliche Europa selbst, denn sie hat dessen gesamten Weg begleitet. Andererseits ist es natürlich, dass zwischen der Union und den Nationalstaaten eine ständige Dialektik besteht, aus der man von Mal zu Mal das richtige Gleichgewicht entspringen lassen muss. Es gibt aber eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, andernfalls riskiert man das Zunichtemachen des europäischen Projekts nicht als Projekt der einfachen Zusammenarbeit unter den souveränen Staaten, sondern der tatsächlichen, schrittweisen Integration, die dazu bestimmt ist, in eine politische Union zu münden. Man tendiert nun dazu, die Gültigkeit und Aktualität des Begriffs des "intergouvernementalen Abdriftens" zu leugnen; es handelt sich dagegen um das wiederkehrende Risiko des Bruchs - in der Beziehung zwischen der Union und den Nationalstaaten - eines Gleichgewichts, das mit der Natur des europäischen Projekts als Integrationsprojekt in Einklang gebracht werden kann. Wir wären naiv oder zurückhaltend wenn wir nicht sehen würden, wie sehr sich dieses Risiko nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags und im Widerspruch zu ihm verschärft hat.
Einem "intergouvernementalen Abdriften" kann nur eine Entfernung vom Ziel eines starken Europa entsprechen, das fähig ist, wirksame gemeinschaftliche Politiken voran zu bringen und sich als globaler Mitspieler auf der internationalen Szene zu behaupten. Umso mehr man mit den Machtbefugnissen und Ressourcen der europäischen Institutionen knausert, umso mehr beweist man, jenes Ziel nicht zu teilen. Im Juni 2005 stellte einer der am stärksten für Europa sich einsetzenden Politiker, Jean-Claude Juncker, zum Abschluss des Halbjahrs unter luxemburgischen Vorsitz dem Europäischen Parlament das kontroverse Ergebnis der Verhandlungen zur den finanziellen Aussichten der Union mit folgenden Worten vor:
"Wir haben die Gegenüberstellung von zwei Sichtweisen Europas gesehen: jener, die hauptsächlich auf die Tugenden des Marktes abzielt - ein Markt, der unfähig ist, Solidarität zu erzeugen - und jener, die auf eine fortgeschrittenere politische Integration abzielt". Oder aber des "Bereichs derjenigen, die denken, dass Europa so wie es ist, bereits zu weit geht, und dem derjenigen, die wie ich denken, dass es noch viel weiter gehen muss".
Eine grundlegende Klärung ist also unabdingbar geworden, zunächst über eine offenere Diskussion unter den Verfechtern dieser beiden Konzeptionen. In diesem Moment helfen Ablenkungsstrategien niemandem.
Es muss eine größere Offenheit in der Auseinandersetzung zwischen den Partnern der Union und den verschiedenen Visionen geben, die diese mit sich bringen; ebenso mehr Offenheit im Dialog mit den Bürgern.

6. DER GEDANKE EINER EUROPÄISCHEN FÖDERATION UND DIE SCHAFFUNG DES EUROPÄISCHEN RATES ALS ANTRIEB DES GEMEINSCHAFTLICHEN AUFBAUS IM JAHR 1974.

Der Gedanke der europäischen Föderation hat eine grundlegende Quelle der Inspiration für die Einleitung und die Entwicklung der Gemeinschaft und dann der Union gegeben. Er hat niemals den natürlichen Tod oder die gewollte Entleerung der Nationalstaaten gefordert, und noch weniger kann er ausgetrieben werden, indem man das Schreckgespenst eines europäischen Superstaates auf den Plan ruft! Dieses nicht identifizierte Objekt, das die Träume der Euroskeptiker stört, widerspricht dem Gedanken einer Föderation, weil es aufgrund seiner Natur unvereinbar ist mit der Auslöschung der Unterschiede.
Es war Jacques Delors, der die Formel der "Föderation der Nationalstaaten" eingebracht hat, um das Missverständnis einer Gegenüberstellung zu überwinden, sicher aber indem er an die Bereitschaft der Mitgliedsstaaten dachte, in einigen grundlegenden Bereichen ihre Hoheitsrechte einzuschränken, um so auf supranationaler Ebene zur Ausübung einer geteilten Hoheit stärker beizutragen.
Seit Anfang an hatten die "Gründerväter" unterstrichen wie der Rat - als Ort der Vertretung der Nationalstaaten -"am Schnittpunkt zweier Souveränitäten steht, einer supranationalen und einer nationalen", mit der "vordringlichen Aufgabe" nicht "die nationalen Interessen der Mitgliedsstaaten zu wahren", sondern "die Interessen der Gemeinschaft zu fördern". Was ich zitiert habe, sind Worte von Konrad Adenauer aus dem Jahr 1952, und in der Beziehung zwischen Rat und Kommission verwies Jean Monnet auf ein "authentisch föderales Gleichgewicht". Viele Jahre später, 1974, entstand - nach den informellen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs - der Europäische Rat. Nochmals war Monnet unter den großen Architekten jener Entscheidung, da er der Ansicht war, dass man "zu den Quellen der Macht zurückkehren müsse", um einer europäischen Kraft Leben zu verleihen, die die bis zu diesem Moment existenten gemeinschaftlichen Institutionen allein nicht garantieren konnten, und um, jenseits der Wirtschaftsunion, die Wege für eine "komplettere und tiefgreifendere Union zu öffnen - ob föderal oder konföderal weiß ich nicht zu sagen". Man beschloss so den Europarat ins Leben zu rufen, gleichzeitig beschloss man - eine Tatsache von klarer, großer Bedeutung - dass das Europaparlament direkt über allgemeine, europäische Wahlen bestimmt werden sollte.
Ich wollte an diesen lange zurück liegenden Vorfall erinnern, um hervorzuheben, dass man im europäischen Aufbau niemals den Sinn des Beitrags aus den Augen verloren hat, den die Nationalstaaten innerhalb der Traktate leisten müssen. Und ich wollte daran erinnern, um aufzugreifen, wie der Gedanke des Europäischen Rates als Antrieb des gemeinschaftlichen Aufbaus, 30 Jahre später, mit dem Vorschlag eines stabilen Vorsitzes des Rates wieder hervorgekommen ist, der sich nicht mit der Kommission überlappt und deren Vorrechten nicht schadet und der sich mit dem Europaparlament im vollen Respekt seiner angewachsenen gesetzgeberischen und kontrollierenden Machtbefugnisse auseinander setzt.
Man wollte in der Vergangenheit also niemals einen europäischen Superstaat, und eben der Verfassungsvertrag, jetzt das Reform Treaty, haben mehr als jeder vorhergehende Vertrag die präzisen Grenzen und Unterscheidungen in Bezug auf die Kompetenzen des Staates und der Union festgelegt, um so eine effektive und wirksame Rolle des Rates der Staats- und Regierungschefs zu garantieren.
Heute und in der kommenden Zukunft muss dieser allerdings wirklich die Rolle eines "treibenden Organs" ausüben.
Treibendes Organ zunächst einmal für die Verwirklichung angemessener gemeinschaftlicher Politiken. Es ist richtig zu sagen, dass in der augenblicklichen Phase von hier aus Europa erneut starten und neuen Elan finden muss. Wir können die Diskussionen der beiden Jahre über die Verfassung dank der Regierungskonferenz im Juni dieses Jahres als abgeschlossen betrachten: abgeschlossen natürlich in der Hoffnung, ich möchte sagen in der Gewissheit, dass der Ratifizierungsprozess des Reform Treaty in den 27 Mitgliedsstaaten keine Überraschungen und Rückschläge bereit hält, auf die man gezwungen wäre mit drastischeren Entscheidungen zu reagieren.
Konzentrieren wir daher unsere Aufmerksamkeit auf die notwendige und mögliche Wiederbelebung der Vorschlags- und Aktionsfähigkeiten Europas und damit der Union. Der Zeitplan ist nunmehr umrissen. Besonders im vergangenen Jahr hat man im Europäischen Rat und in der Kommission die Übereinkunft gefunden, indem man präzisiert hat, in welche Richtung - also als Antwort auf die dringenden Herausforderungen - die gemeinschaftlichen Politiken formuliert oder neu formuliert werden müssen, verwirklicht und voran gebracht werden müssen und somit fähig werden, das Wachstum und den Zusammenhalt der Wirtschaften und der europäischen Gesellschaften zu stärken sowie die Rolle Europas als globaler Akteur in einer Welt, die sich immer stärker verändert, zu bestätigen.





7. DIE NEUEN HERAUSFORDERUNGEN. DIE MISSION EUROPAS ALS GLOBALER AKTEUR.

Ich werde mich darauf beschränken, hier kurz die Bereiche aufzuzählen, in denen man überein gekommen ist, entscheidende und sichtbare Fortschritte zu erlangen.
An erster Stelle die Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung wie sie in der Mitteilung der Kommission im Hinblick auf das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Oktober genannt wird. Es handelt sich also einerseits darum zu vermeiden, dass Europa in die Defensive geht, Stellungen verliert und aufgrund des Globalisierungseffekts schwer zurückfällt. Und es handelt sich andererseits darum, dass es gelingt den Verlauf dieses Prozesses zu beeinflussen. Bereits der Europäische Rat im März dieses Jahres hat bedeutende Angaben verabschiedet, um den Binnenmarkt und die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken, um Innovation, Forschung und Bildung zu verbessern, um die Beschäftigung zu fördern, um das europäische Sozialmodell zu modernisieren und zu stärken. Man hat also konkret, mit größerem Nachdruck, die Strategie von Lissabon betont, in deren Rahmen die Eurozone eine Antriebsfunktion ausüben müsste. In der neusten, von mir zitierten Mitteilung der Kommission, wurden außerdem die großen Probleme allgemeiner Art gestellt: die Absicherung der Finanzmärkte, die immer stärker globalisiert sind, die Bekämpfung der Hindernisse für den Austausch und die Investitionen, indem man die Öffnung der Märkte in der ganzen Welt verfolgt, die Schaffung einer gemeinsamen Reglementierung für das Funktionieren der Weltmarktes.
Die größte Neuheit des Jahres 2007 war, dank des Impulses der deutschen Präsidentschaft, zweifelsohne die Lancierung einer grundlegend neuen gemeinschaftlichen Politik: eine integrierte Klima- und Energiepolitik, die vital für Europa und von großer Relevanz auf Weltebene ist. Dies ist wirklich eine ausschlaggebende Herausforderung, auf die man auf nationaler Ebene keine Antwort geben kann; in Bezug hierauf ist der Weg einer gemeinsamen Orientierung und eines gemeinsamen Einsatzes auf europäischer Ebene einfach verpflichtend.
Ebenso obligatorisch erscheint eine gemeinsame europäische Antwort auf die Herausforderung der Migrationsbewegungen. Bereits seit langer Zeit sind ja die wichtigsten Komponenten einer gemeinsamen europäischen Politik in diesem Bereich aufgezeigt worden: die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des Menschenhandels, die Öffnung und die Handhabung von legalen Eingangs- und Aufenthaltskanälen, die Partnerschaft mit den Herkunfts- und Transitländern der Migrationsflüsse.
Und abschließend die alles umfassende Herausforderung - in Bezug auf die Erfahrung der 50 vergangenen Jahre - die die Mission neu zeichnet, zu der Europa aufgerufen ist - die mögliche neue Jahreszeit der europäischen Integration. Ich spreche von der Herausforderung der internationalen Sicherheit und von einer neuen und gerechteren Weltordnung. Und diese Antwort hat einen seit langem bekannten Namen: eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Es hat nicht an Fortschritten gefehlt, aber man ist noch weit entfernt vom Niveau der Präsenz und Glaubwürdigkeit, die unabdingbar sind, damit Europa ein anerkannter Akteur ist und in einer Welt, die von zahlreichen schwerwiegenden Spannungen und großartigen Veränderungen in den Gleichgewichten zwischen den größten Weltmächten und den verschiedenen Regionen durchlaufen ist, tatsächlich zählt. Es gibt heute in der alltäglichen Konfrontation vielleicht ein stärkeres Bewusstsein gegenüber Krisensituationen, Kriegsherden, problematischen und risikoreichen Entscheidungen, die innerhalb der internationalen Gemeinschaft getroffen werden müssen. Im Reform Treaty ist die Verpflichtung gerettet worden, einer neuen Vertreterfigur der Außen- und Sicherheitspolitik Leben zu verleihen und diese auch mit dem Instrument eines Dienstes für "externe Aktionen" zu versehen. Aber wird man sich entschieden in diesem Sinn bewegen?
Ich stelle diese Frage nicht als Zeichen der Skepsis, sondern als Berufung auf einen gemeinsamen politischen Willen, der noch fehlt.

8. DIE WIEDERBELEBUNG DER POLITIKEN UND AKTIONEN DER UNION.

Sagen wir es daher ganz klar, es ist richtig, sich als Antwort auf die Herausforderungen, an die ich erinnert habe, auf die Politiken, auf die Handlungslinien, die voran gebracht werden müssen zu konzentrieren, aber man muss wissen, dass dies nunmehr der Prüfstein der Fähigkeit der Europäischen Union ist, nicht müde zu überleben, sondern sich auf das Niveau ihrer Herausforderungen zu erheben. Der Prüfstein der Fähigkeit, effektiv die neuen Instrumente einzusetzen, die zunächst vom Verfassungsvertrag und nun im Reform Treaty definiert worden sind, der Prüfstein der Fähigkeit, wirklich einen gemeinsamen politischen Willen auszudrücken. Definitiv der Prüfstein der Fähigkeit, den antiken Knoten der widersprüchlichen Visionen des europäischen Projekts zu lösen, zu vermeiden, dass unser Weg fatal von Kräften bestimmt wird, die widerstehen und in minimalistischem und einschränkendem Sinn vor jedem Voranschreiten des europäischen Aufbaus Druck ausüben.
Die zur Verfügung stehende Zeit für die Überprüfung und für einen möglichen Rückgriff auf andere Wege ist nicht viel. Europa erneuert sich nicht und wächst nicht, wie es vom globalen Wettbewerb gefordert wird: wir dürfen die Ergebnisse der Strategie von Lissabon nicht überbewerten, die Verzögerungen herunterspielen und die Hindernisse verbergen, auf die sie gestoßen ist und noch stößt. Und dies lastet tatsächlich auch auf den angenommenen Resolutionen, auf klar definierten Ausrichtungen bezüglich wichtiger Probleme, es lastet immer die Unbekannte der Kontraste in den institutionellen Übergängen zwischen Kommission, Parlament und Rat, die den Weg verlängern und blockieren können. Ich habe zuvor kurz auf das Thema der Immigration verwiesen: Nun, wie viel des vom Rat in Tampere 1999 verabschiedeten Programms, wie viele der vorgeschlagenen Maßnahmen, besonders um gemeinsame Standards bezüglich der legalen Immigration festzulegen, sind lange Jahre blockiert worden, weil sie einen einstimmigen Konsens im Rat forderten und nicht erreichten? Und auch diesbezüglich ist die zur Verfügung stehende Zeit nicht viel, um mit einer gemeinsamen Politik Notstände und Spannungen anzugehen, die alle europäischen Länder betreffen.
Es bleibt nicht viel Zeit, um die Verlegenheit und die Verzögerung Europas zu überwinden, seinen Teil gegen den Terrorismus zu tun, für die internationale Sicherheit, und so Glaubwürdigkeit und Gewicht zu erlangen, auch um seine Beweggründe in der immer wesentlichen Beziehung mit dem amerikanischen Verbündeten zu erlangen. Es bleibt nicht viel Zeit, um die Fähigkeit Europas unter Beweis zu stellen, in den internationalen Foren mit nur einer Stimme zu sprechen, eigene Positionen und Initiativen bezüglich der dringendsten vorliegenden Fragen zu entwickeln, im Mittelmeerraum, im Nahen Osten, in der angespannten Beziehung zum Iran (um nur einige Beispiele zu nennen). Wir können das Risiko einer grundlegenden Irrelevanz Europas im Weltkontext nicht leugnen. Und dies während man von so vielen Seiten einen autonomen und konstruktiven Beitrag Europas erwartet, auch im Kontext der transatlantischen Beziehungen; während, wie es kürzlich auf sehr eloquente Weise Bundespräsident Köhler ausgedrückt hat, "die Welt erwartet mehr von uns Europäern, als wir ihr derzeit bieten", um die Globalisierung zu "gestalten".
Bereiten wir uns daher auf die Beweise der Kohärenz vor, auf die Überprüfungen des politischen Willens, mit dem - nach der Überwindung des institutionellen Stillstands - die Möglichkeit einer Wiederbelebung Europas verbunden ist, seines Wachstums, seines Zusammenhalts, seiner Bejahung, seiner Rolle.
Bereiten wir uns darauf vor, konkret zu überprüfen - während man mit den Ratifizierungen des Reform Treaty voranschreitet - in welchem Maß der Kontrast zwischen verschiedenen Konzeptionen des europäischen Projektes und der verschiedenen Niveaus des Ehrgeizes für Europa verbleiben und sich auswirken. Und fragen wir uns, welche Wege man folglich innerhalb des Vertrages erproben kann, der in Lissabon unterzeichnet worden ist.

9. DIE GRENZEN DER UNION; FÜR EIN INTEGRIERTES UND REGIERBARES EUROPA.

Ein weiteres Thema, das in seiner Komplexität stark diskutiert wird und abschließende Antworten zu fordern scheint - das Thema der Grenzen Europas (oder besser der Union) in Bezug auf die neuen möglichen Erweiterungen nicht nur auf die Länder des Balkanraumes, sondern auch der Türkei - führt auf die Vorstellung zurück, die man vom Integrationsprozess hat. Bereits in den Verhandlungen mit den 12 Kandidatenländern in den Jahren gleich nach 2000 hat man meiner Ansicht nach den Fehler begangen, die grundlegende Frage nicht anzugehen: die der Übertragung der Hoheit gegenüber den Institutionen der Union, die allein zu einer anderen Erfahrung führen können als der einer einfachen Zusammenarbeit unter eigenständigen, verbündeten Staaten. Noch mehr indem man auf die Zukunft blickt, sagt uns die Erfahrung, dass man nur dann an neue Erweiterungen denken kann, wenn sie mit dem Gedanken eines stark integrierten und regierbaren Europa vereinbar sind, mit einem Europa, das nicht zur Verwässerung und zum Verzicht auf jeglichen Ehrgeiz als politisches Subjekt verurteilt ist.
Ein noch vor kurzem mit hartem Realismus von Jacques Delors vorgeschlagener Weg, ist der, die Ziele, die vom Großen Europa verfolgt werden können, zu beschränken und über eine Differenzierung auf ehrgeizigere Ziele voran zu schreiten, die die Initiative einer beschränkten Gruppe von Ländern sehen, der sich andere anschließen können, wenn sie in der Lage sind, an jener fortschrittlicheren Integrationsentscheidung teilzunehmen. Wir wissen, dass es in dieser Hinsicht Präzedenzfälle gegeben hat, vom Schengen-Abkommen bis zur grundlegenden Entscheidung für den Euro und die Europäische Zentralbank. Mit dem Reform Treaty zeigt man nun die Möglichkeit auf, leichter auf das Instrument der verstärkten Kooperation zurückgreifen zu können.
Man kann die Durchführbarkeit dieser fortschrittlicheren Integrationsformen diskutieren und darüber wie diese tatsächlich der Notwendigkeit entsprechen können, den Weg der Europäischen Union zu beschleunigen. Aber sicher darf man von Seiten der neuen Mitgliedsstaaten keine Angst davor haben, denn die Türen für sie, wie für alle anderen würden offen bleiben (und mehr als eines von ihnen ist ja bereits Teil oder wird bald an der Eurozone und am Schengenabkommen teilnehmen). Und noch weniger kann man allgemein Angst haben: Es würde sich um eine nicht schädliche Differenzierung für die Einheit des gemeinsamen institutionellen Rahmens der heute 27 handeln. Weitaus schädlicher ist der Anstieg der opt-out und der Ausnahmeregelungen, die von einzelnen Mitgliedsstaaten gefordert werden: Dies ist eine Praxis, die zur Regression und nicht zum Voranschreiten führt, zur Erosion und nicht zur Differenzierung des europäischen Integrationsprozesses.

10. DEN KONSENS DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG ZURÜCKGEWINNEN.

Was ich hier anführe sind Optionen, die bereits vorliegen, unabhängig von dem, was man für Europa und für die Union annehmen kann, indem man den Blick weiter, bis 2020 oder 2030 schweifen lässt. Man kann der Überlegung zu dieser weiteren Perspektive einen entsprechenden Ausschuss der Weisen widmen und dabei an die vorhergehenden denken, die in der Vergangenheit positive Ergebnisse erreicht haben; aber heute muss man den Beiträgen der Debatte, die eben hier im Mai 2000, an dieser Universität hervor gekommen sind, sowie den vertieften Gegenüberstellungen, die dann im Konvent gefolgt sind Rechnung tragen. Ich möchte nicht, dass man sich allzu sehr wiederholt; ich möchte nicht, dass wir einen Überschuss an Überlegungen und ein Defizit an Entscheidungen riskieren.
Wir benötigen Entscheidungen, die greifbare Wirkungen auslösen, um den Konsens in der öffentlichen Meinung wieder herzustellen, jener Konsens, der zurückgegangen ist, und das nicht nur in den beiden Ländern, die in der Volksabstimmung zum Verfassungsvertrag mit Nein gestimmt haben. Es hat sich in den Bürgern - und diese grundlegende Tatsache dürfen wir nicht vernachlässigen - eine Vertrauenskrise gegenüber dem europäischen Projekt herausgebildet. Dazu beigetragen haben die Verlangsamung des Wachstums, besonders in einigen großen Binnenwirtschaften, die Angst zu den Verlierern des Globalisierungsprozesses zu gehören, die Sorge um die Auswirkungen der Erweiterung der Union, und schlussendlich die Wahrnehmung einer Ohnmacht und eines Niedergangs Europas im gesamten Weltbild.
Dies ist eine Krise, die überwunden werden kann, indem man konkrete und konsistente Zeichen der Belebung setzt und gleichzeitig das Terrain von betrügerischen und zerstörerischen Kampagnen befreit. Ich beziehe mich auf politische und meinungsbildende Kampagnen, die die außergewöhnlich positive Bilanz von 50 Jahren verdunkelt haben, die ein gesamtes Erbe von Werten und Errungenschaften überschattet haben, die den Gedanken eines Europa akkreditiert haben, das mehr Verpflichtungen und Einschränkungen aufwies als Vorteile und Möglichkeiten, während häufig gewisse nationale Regierungen als Alibi auf die europäischen Richtlinien und Verpflichtungen verwiesen, um ihre Fehler und Unzulänglichkeiten zu verdecken. Es ist daher eine große politische und kulturelle Anstrengung notwendig, eine Anstrengung der Kommunikation und der europäischen Pädagogik, die eins wird mit der Stärkung der Kanäle - auch auf der Grundlage der Vorhersagen des neuen Verfassungsvertrages - der Einbeziehung, der Beratung, der Teilnahme der Bürger und der bürgerlichen Gesellschaft. Dies ist die Anstrengung, die gemacht werden muss, um Europa als offenere und demokratische Union wachsen zu lassen.

11. EIN NEUER IMPULS VON KOMMISSION UND PARLAMENT.

Aber woher kann in dieser Phase der Impuls für solch eine Aktion kommen, der Impuls für neue, schnelle und wirksame Entscheidungen, grundlegend also der politische Willen, der notwendig ist?
Unser Blick - unser Aufruf - kann sich somit nur an die gemeinschaftlichen Institutionen und an die Nationalstaaten richten, die in den Zeiten der fruchtbarsten Entwicklung der europäischen Integration als Antrieb gewirkt haben.
Besonders die Institution der Kommission, die einen schwierigen Übergang durchlebt und die Institution des Europaparlaments, das an Machtbefugnissen und Repräsentativität hinzu gewonnen hat, und das sich in grundlegenden Aspekten wach und bejahend zeigt, ohne in Selbstüberschätzung zu verfallen. Es hat es auch verstanden, sich in der richtigen Weise für intensivere Beziehungen mit den nationalen Parlamenten, besonders für eine intensivere Zusammenarbeit mit deren Vertretungen im Ausarbeitungsprozess des Verfassungsvertrags zu öffnen - ohne dass die respektiven Rollen verwechselt würden. Dies war eine Gelegenheit und eine Erfahrung, aus denen die nationalen Parlamente über ihre Vertreter vielleicht nicht den vollen Sinn ihrer gewachsenen Funktion und Mitverantwortung für das Voranschreiten der europäischen Einheit und Integration gezogen haben.
Altiero Spinelli, in seinen letzten Jahren als unermüdlicher Prophet und Verfechter Europas, hat stark auf die verfassungsgebende Berufung des Europaparlaments gesetzt. Ein Mandat in diesem Sinne wurde damals nicht erlangt, aber vom Europaparlament kann, in engerer Verbindung zu den nationalen Parlamenten und mit der großen Zuhörerschaft der Bürger und Wähler ein neuer Impuls für die Belebung der Union und für den Aufbau von fortschrittlicheren Perspektiven für ein geeintes Europa kommen.

12. DEUTSCHLAND, ITALIEN, FRANKREICH: DIE ROLLE DER NATIONEN UND DER ENTSCHLOSSENSTEN LEADERSHIPS.

Was die Mitgliedsstaaten der Union, die Nationen und die politischen Führungsrollen angeht, ist es nicht notwendig, daran zu erinnern, welches die historische Rolle der Gründerstaaten des gemeinschaftlichen Europa gewesen ist, ob sie nun groß oder klein sind. Zu ihnen sind in den nachfolgenden Erweiterungen der Union andere hinzugekommen, die gleichfalls von einer starken europäistischen Überzeugung und einem ebensolchen Einsatz angetrieben waren; ich bin überzeugt, dass der heute notwendige Impuls, der unabdingbare politische Willen auch aus dem Bereich der Staaten kommen kann, die in den jüngsten Jahren zur Union gestoßen sind.
Ich möchte aber dennoch den Akzent auf das setzen, was man von Deutschland, Italien, Frankreich erwartet, und was noch aus diesen Ländern kommen kann. Das Schicksal des geeinten Europa liegt zum großen Teil in den Händen dieser Länder.
Von Deutschland und Italien kann man sehr wohl sagen, dass sie beide die festeste und ununterbrochenste Kontinuität mit dem Geist der Ursprünge gezeigt haben, mit dem europäischen Integrationsprojekt, mit der Vision von Adenauer und De Gasperi. Sie haben dies in allen europäischen Institutionen sowie in ihren Entscheidungen als Nationalstaaten bewiesen. Sie haben niemals Krisen im Leben der Gemeinschaft und der Union ausgelöst, sie haben immer für die Überwindung der Krisen und Schwierigkeiten gearbeitet, die aufgekommen sind. Es steht Deutschland und Italien zu, die Gemeinsamkeit an europäischen Idealen und Zielen neu zu stärken, jenseits der Nachfolge und der Erneuerungen in der politischen Führung: Unsere beiden Länder haben eine besondere Verantwortung, weil sie immer an Europa als politische Union geglaubt haben, als immer engere Union unter den europäischen Völkern. Auf einen Einsatz Italiens in diesem Sinn, ohne auf weniger ehrgeizige Ansätze auszuweichen, kann man immer zählen, wie ich schon anfangs sagte; ich vertraue darauf, dass dieser sich auch in einer intensiveren Fähigkeit zu Vorschlägen und Initiativen umsetzen kann.
Der Weg Frankreichs war schwieriger. Aber es ist vollkommen richtig zu behaupten, wie es Präsident Sarkozy getan hat, dass der Willen Europa zu einen und dabei die Werte der europäischen Zivilisation zu schützen, die bereits von zwei Kriegen im Herzen Europas bedroht worden waren, das Bewusstsein dieser Notwendigkeit und die Vision des neuen Weges, der eröffnet werden musste, "d'abord französisch waren". Von Präsident Sarkozy sind in diesen Monaten leidenschaftliche Akzente und Anerkennungen von großem Wert gekommen: zum Wert der "praktischen Erfahrung einer geteilten Hoheit", die Europa seit 50 Jahren bestimmt hat, zur Tragweite der neuen weltweiten Herausforderungen und zu den Grenzen, die ihnen gegenüber die Aktionsfähigkeit der Nationalstaaten darstellt, zur untrennbaren Verbindung "es gibt kein starkes Frankreich ohne Europa, wie es kein starkes Europa ohne Frankreich gibt".
Die Neubehauptung der Mission und des europäischen Einsatzes von Frankreich stellt - und ich sage dies, ohne die Unterschiede, die bleiben, oder die überprüft werden müssen, ignorieren oder diplomatisch betrachten zu wollen - in diesem schwierigen Moment einen der wichtigsten Beweggründe des Vertrauens in das vereinte Europa dar.
Gleichzeitig haben wir immer gewusst, welcher Beitrag für den europäischen Aufbau aus der französisch-deutschen Übereinkunft gekommen ist, die seit den Jahren von Robert Schuman und Konrad Adenauer zwischen den Staats- und Regierungschefs der beiden Länder auch auf streng persönlicher Ebene ins Herz grundlegender Fragen übertragen worden ist. Und wie sollte man nicht von den beiden großen Vorsitzenden der Europäischen Kommission sprechen, die jeweils zehn Jahre im Amt waren, Walter Hallstein und Jacques Delors !
Es ist außerdem inzwischen eine gängige Meinung, dass diese Übereinkunft einer der Hauptangelpunkte des europäischen Integrationsprozesses bleibt, aber allein nicht ausreicht, um den notwendigen Impuls zu schaffen und - in der heute so erweiterten Union - Momente der Leere im politischen Willen, die lange anhalten oder schwer ins Gewicht fallen, oder aber Schwächen im Gewebe und der gemeinschaftlichen Methode auszufüllen.
Die Entscheidungen und die Politiken aufzubauen und zu verwirklichen, mit denen die Zukunft Europas verbunden ist, kann nicht das Werk eines Direktoriums sein, das aus zwei oder drei Mitgliedern besteht, in jedem Fall aber zusammengesetzt oder ausgewählt ist. Der stärkste politische Willen in Europa, den man benötigt, kann von einem neuen Impuls der Nationen und der entschlossensten Führungen ausgelöst werden, aber er muss aus weiteren Synergien entspringen und sich in der Handlungsweise, in der Orientierung und dem Schaffen der gemeinschaftlichen Institutionen, die dem Integrationsprozess vorsitzen, vertiefen.
Wie vor nunmehr vielen Jahren ein wichtiger Hauptdarsteller des europäischen Abenteuers sagte, als er bereits das Hervorkommen der Alternative sah, entweder anderen die Entscheidung über das Schicksal unseres Kontinents zu überlassen, oder unsere Kräfte zu vereinen, um Europa in der Zukunft der Welt Gewicht zu verleihen, "wir befinden uns in einer Phase, in der das Schicksal noch zögert". Wir können nicht faul warten, Gefangene in unseren Diskussionen und unseren Unsicherheiten, dass das Schicksal zu ungunsten Europas umschlägt.